
Goldmann Verlag
2006, broschiert
320 Seiten
EUR 7,95
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Die Toten von Santa
Lucia
Der Blick aus dem Autofenster bot außer viel Blech
nur einen räudigen Wurf von im Nichts endenden Betonpfeilern
und planlos wuchernden, heruntergekommenen Behausungen,
vor denen statt grüner Pflanzen und bunter Blumen rostiges
Blech und jede Menge Müll blühten. Sie hielt Ausschau
nach dem Vesuv, sah aber nichts als ein Meer aus Autos und
ein zweites aus Häuserdächern mit Fernsehantennen,
die wie Periskope von U-Booten in den graublauen Himmel
äugten. Sie horchte auf das Rauschen des Meeres, das
Raunen von Sibyllen, den Gesang von Sirenen, doch was ihr
ersatzweise angeboten wurde war das ungeduldige Aufheulen
frisierter Vespamotoren und Hupen in allen Varianten und
Laut-
stärken.
Irgendwo im Hinterkopf vibrierte Lion Lichtenbergs Stimme,
die etwas von einer sinnlichen Stadt faselte. Sinnlich?
In der Nase beißende Abgasschwaden, in den Gehörgängen
Verkehrslärm, vor Augen ein einziges unerfreuliches
Chaos, das sich gerade selbst strangulierte – und
auf der Zunge eine Reihe unansehnlicher Worte, die dem Ganzen
entsprechend Ausdruck verleihen würden. Aber das hatte
Lion wohl nicht gemeint.
"Und – gefällt es Ihnen?", fragte Commissario
Gentilini, der ihren Blick bemerkt hatte.
Wahrscheinlich erwartete er ein paar begeisterte, zumindest
erwartungsvolle Floskeln, aber Sonja konnte nicht anders,
auch auf die Gefahr hin, ihren Chauffeur endgültig
zu verprellen.
" Ehrlich gesagt, nein."
" Das merkt man." Er grinste beifällig, und
ihr war unklar, ob er ihr insgeheim Recht gab oder sich
im Gegenteil über sie lustig machte.
Sie verschränkte die Arme über der Brust. "Und
Ihnen?"
"Ich lebe hier", sagte er achselzuckend. Und dann geschah etwas Unerwartetes: Der Commissario fing an zu singen.
Sul mare luccica / l'astro d'argento / placida è l'onda ...
Im ersten Moment war Sonja peinlich berührt. War das
ein Willkommens-Ständchen für die widerspenstige
Reisende aus dem Norden? Eine schmalzige Kostprobe aus dem
Reich mandolinenspielender Machos? Doch dann spürte
sie, dass nichts davon zutraf. Da war kein Schmalz und keine
Spur von Theatralik, Kitsch oder Übertreibung. Das
Schmalzige existierte einzig und allein in ihrem Kopf. Neben
ihr am Steuer des Polizeiwagens saß ein leibhaftiger
Neapolitaner, der nicht grölte oder leierte oder schmetterte
oder brummte, sondern einfach sang. Mit weicher, wohlklingender
Stimme und vor allem völlig ungeniert, während
die Melodie sanft auf und ab schaukelte wie ein Fischerboot
auf dem glitzernden Meer.
… venite all’argile / barchetta mia …
Der Gesang eroberte ihr Herz zwar nicht im Sturm, aber er
riss eine ansehnliche Bresche in die Mauer ihrer Abneigung.
Einen Moment lang hatte sie eine Opernbühne vor Augen,
darauf eine Handvoll Auto-Attrappen vor einem blauen Leinwandmeer,
und in den ramponierten Gehäusen mit künstlich
aufgepinselten Roststellen saßen echte Sänger,
die nun aufstanden und ihre Oberkörper durch die offenen
Autodächer schoben und im Chor losschmetterten wie
in einer Oper von Verdi …
Der Kommissar wiederholte den Refrain und legte dabei ein
paar Dezibel zu: Santa Lucia! Santa Lucia!
Wie auf ein unausgesprochenes Kommando setzte zeitgleich
ein Hupkonzert ein. Vielleicht hatte irgendwer im Stau die
Geduld verloren und augenblicklich eine Vielzahl anderer
frustrierter Autofahrer angesteckt, die alle nur darauf
warteten, sich endlich Luft machen zu können.
[S. 17-19]
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