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Leseprobe
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Aufbau Tb,
Berlin 1999, Broschiert
384 Seiten
EUR 8,95
ISBN: 374661595X

Weg vom Fenster

Die Frau brachte ihr das Radler und den Rest von den fünf Mark. Ines bedankte sich. Und wieder: „Paßt scho.“
Paßt scho – der erste, zugegebenermaßen kurze Satz der ersten Lektion eines imaginären Sprachlehrbuchs, in dem Ines seit ihrer Ankunft im Freistaat zu blättern gezwungen war. Paßt scho, mit weichem P oder hartem B, konnte, je nach Situation, soviel heißen wie: Ist schon in Ordnung oder: Danke, gut oder: Macht nichts und wurde voer allem dann aktiviert, wenn jemand keine Lust hatte, ausführlicher zu antworten.
„Wie geht’s?“ – „Paßt scho.“
Ein verblüffend oft benutzter Kurzsatz, um jemanden formvollendet abzubügeln.
„Wie sind die Nächte mit dem Kleinen?“
„Paßt scho.“
Von wegen: eine Katastrophe! Da paßte aber auch rein gar nichts. Die Nächte waren immer zu kurz, zerrissen, die Nerven blankgelegt, der Kraftvorrat allmählich erschöpft. Auch deshalb war Ines jetzt unterwegs. Um die Katastrophe in andere Bahnen zu lenken, Schlaflosigkeit umzumünzen in Stadtansichten. […]
Denn zuverlässig schlief Johnny nur, wenn er im Kinderwagen geschoben wurde.
(S. 8/9)

Sie schrak zusammen. Da hatte doch etwas geknallt. Eine Fehlzündung? Automatisch schuckelte sie den Kinderwagen, ein fast schon zur zweiten Natur gewordenes Zucken der hand, doch Johnny schlief so friedlich wie schon lange nicht mehr. Gleichzeitig sah sie zum erleuchteten Fenster hoch, sah, wie der Vorleser in die Knie ging, noch ein Stück in sich zusammensackte und dann mit einem Ruck aus der Sicht verschwan. Ein Paternoster, dachte sie augenblicklich und erwartete beinahe, den Mann nach einer verlängerten Fahrt durch den Keller ein Stück weiter rechts wieder auftauchen zu sehen, zuerst den Kopf, dann den Oberkörper, die Beine, die Füße, bis er gen Himmel entschwinden würde. Zugleich spürte sie deutlich, daß etwas geschehen war. Daß der Mann nicht mehr auftauchen würde. Nie mehr.
(S. 19)

Sie war auf der Hut. Sie konnte sich nach wie vor keinen Reim darauf machen, wie es eigentlich gekommen war, daß sie und Popp dieses höchst unsichere erotische Terrain betreten und die solide Kollegenbasis verlassen hatten. […] Sie zog sich schließlich nicht vor jedem aus und ließ sich nicht von jedem anfassen. Sie und Popp hatten ein Floß bestiegen und waren in die Nacht geglitten und hatten die Strudel unter der Steinernen Brücke passiert und hätten, wenn es nach Freya gegangen wäre, die ganze Nacht durch die Dunkelheit fahren können – doch dann waren sie auf Grund gelaufen. Besser gesagt, Popp hatte sie auflaufen lassen. Er hatte den Fall Breitkreuz in ihr Bett gezerrt wie eine Wasserleiche auf die Planken, wenn sie schon einmal bei dem Vergleich war. Er hatte sich übergangslos und plump vom Geliebten Popp in den Kollegen Popp zurückverwandelt. Und was, bitte schön, tat ein Kollege in ihrem Bett? Auf ihrem Floß? Raus hier! Runter ins kalte Wasser! Schwimm alleine weiter! Sie nahm es ihm übel, daß er nicht getrennt hatte zwischen Beruf und körperlichen Begierden …
(S. 224)